Der jüngste Besuch des extravaganten argentinischen Präsidenten Javier Milei in Europa war eine kuriose Angelegenheit. Er reiste zunächst auf Einladung der rechtsextremen Vox-Partei nach Spanien, wo ein Staatsbesuch nicht vorgesehen war, weil sich Milei im Vorfeld mutwillige Kapriolen geleistet hatte. Sein “Hass auf den Sozialismus” veranlasste ihn, Pedro Sanchez, den spanischen Premierminister, höchst undiplomatisch anzugehen: “Er hat eine korrupte Frau, er ist ein Schmutzfink und braucht fünf Tage, um zu überlegen, was er tun soll”, so Milei. Der spanische Außenminister José Manuel Albares bezeichnete den Vorfall als “Frontalangriff auf unsere Demokratie, auf unsere Institutionen und auf Spanien”.
Stattdessen wurde Milei in Spanien von dem obskuren libertären Think-Tank „Instituto Juan de Mariana“ (Mariana war ein Priester aus dem 16. Jahrhundert) empfangen, wo er eine “Auszeichnung” erhielt, die erste von dreien. Die spanische Regierung berief ihren Botschafter aus Buenos Aires ab und Milei reiste weiter nach Deutschland und die Tschechische Republik, um zwei weitere Auszeichnungen in Empfang zu nehmen.
Javier Milei lehnte das Angebot Deutschlands für einen geplanten offiziellen Besuch ab und stufte diesen zu einem “Arbeitstreffen” in Berlin herunter. Vor dem Besuch in der Hauptstadt machte Milei samt Gefolge Zwischenstation in Norddeutschland, wo er eine Medaille von der „Friedrich von Hayek-Gesellschaft“ erhielt, einem rechtsextremen Wirtschaftsinstitut. Auf der Bühne in Hamburg zollte der Geschäftsführer Gerd Habermann Milei überschwänglich Respekt, indem er dessen radikales Reformprogramm als “nichts weniger als die Abschaffung des egalitären Wohlfahrtsstaates” bezeichnete. Nur für den Fall, dass die Leute den Punkt übersehen haben sollten, bestätigte er: “Es ist nicht nur eine Reform“.
Milei stimmte dann einem einstündiges Treffen mit dem deutschen Bundeskanzler und Regierungschef Olaf Scholz zu, unter der Bedingung, dass man seine “klare Ablehnung” einer Pressekonferenz respektiere. Dass Milei, der erklärte Exekutor des Sozialstaates, mit dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Scholz zusammentraf, mag so manchen gewundert haben. Quellen zufolge sprach Milei über neue Lithium-Minen, während Scholz eine etwas weniger apokalyptische Sozialpolitik in Argentinien vorschlug. Da es keine Pressekonferenz gab, werden wir wohl nie erfahren, worüber sie sich wirklich austauschten. Draußen auf den Straßen von Berlin wurde der argentinische Präsident von Demonstranten mit Plakaten empfangen, auf denen zu lesen war: “Milei, du siehst dich selbst als Löwe, aber du bist nur ein faschistisches Schwein”. Er grüßte die Demonstranten spöttisch hinter einer Absperrung und stieg wieder in sein Fahrzeug.
Weiter ging es nach Prag, wo Milei erneut eine Auszeichnung von einem obskuren lokalen liberalen Think-Tank namens Liberalni Institut erhielt. Einigen Berichten zufolge war diese Auszeichnung inoffiziell und wurde später widerrufen. Liberalni ist eine weitere euroskeptische Einrichtung, die aktiv mit der rechtsstehenden deutschen Friedrich-Naumann-Stiftung zusammenarbeitet. Die dritte Auszeichnung erhielt Milei für seinen “Beitrag zur Verbreitung des liberalen Denkens und zur Verwirklichung der Ideen von Freiheit, Privateigentum und Rechtsstaatlichkeit”. Er postete die Urkunde von Liberalni auf seiner Instagram-Seite.
Aber reist Milei wirklich nur nach Europa, um Auszeichnungen einzusammeln, oder sucht er, wie sein Sprecher gegenüber Forbes berichtete, nach einer Musterlösung für die argentinische Wirtschaftsmisere, die er ausgerechnet in Irland vermutet?
Argentinien ist nicht Irland, und hier ist der Grund dafür!
“So zu sein wie Irland ist für Argentinien ein höheres Ziel als so zu sein wie Deutschland: Das ist schon immer die Einschätzung von Javier Milei.” So begann Regierungssprecher Manual Adorni ein Interview mit „Forbes Argentina“ vor der Europatournee, in dem er das Wirtschaftsmodell des argentinischen Präsidenten erläuterte. Wenn man etwas tiefer gräbt, sieht man, dass nicht Irland selbst Mileis Ziel ist, sondern Irlands BIP im Verhältnis zur Einwohnerzahl.
Mileis Best-Case-Szenario für die argentinische Wirtschaftsentwicklung, ja sein Modell für die gesamte argentinische Entwicklung ist das irische BIP / pro-Einwohner-Verhältnis. Als irischer Wirtschaftswissenschaftler, der in Argentinien lebt, beschloss ich daher, einige der Paradoxien zu untersuchen, die den irischen Wirtschaftsplänen von Milei für Argentinien zugrunde liegen. Die nicht hinterfragten Vorannahmen in seiner Vision sind, gelinde ausgedrückt, ziemlich beunruhigend.
Eine kurze Analyse von Mileis irischer Vision für Argentinien
Schritt 1: Was sind Mileis erklärte Ziele für Argentinien? Sein Wirtschaftsmanifest basiert auf der “Rückkehr” Argentiniens zu seinem Status als Weltmacht. Trump nennt das gerne “Make Argentina Great Again”. Spulen wir einen Moment zurück: Argentinien zu was wieder machen? Zu keinem Zeitpunkt seiner Geschichte war Argentinien eine Weltmacht!
Technisch gesehen spricht Milei (wenn er nicht gerade Reden hält) keineswegs über die politische Macht Argentiniens vor hundert Jahren, sondern nur über seine Wirtschaft, und selbst da stützt er sich nur auf eine einzige Statistik, die er aus seiner seltsamen wirtschaftlichen Randsekte des Libertarismus bezieht. Milei misst die historische “Macht” Argentiniens in der goldenen “liberalen” Wirtschaftsära Argentiniens (1880-1920) anhand des Verhältnisses des Bruttoinlandsprodukts zur Bevölkerungszahl.
Mileis Wirtschaftsrevisionismus erfordert die Rekonstruktion des BIP (eine statistische Größe, das es vor 100 Jahren nicht gab) und dessen Division durch die historische argentinische Bevölkerungszahl, um das BIP pro Person zu berechnen. Das irische BIP pro Person sei extrem hoch, argumentiert Milei, das argentinische sei es damals auch gewesen. Das argentinische BIP pro Person könne wieder hoch sein, also tauge Irland als Modell.
So weit, so gut. Aber sehen wir uns die Zahlen an.
Selbst wenn man davon ausgeht, dass man die hundert Jahre alten argentinischen BIP-Zahlen rückwirkend rekonstruieren kann, bleibt immer noch die Frage nach der Bevölkerung (oder vielmehr der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung), die in Argentinien vor hundert Jahren eine kleine Zahl ausmachte, aber wahrscheinlich auch stark unterbewertet wurde. Wenn man durch eine kleine Zahl (einer als zu gering gezählten Bevölkerung) dividiert, erhält man ein künstlich hohes Nummer.
Um die Wende zum 20. Jahrhundert wurden die argentinischen Ureinwohner im Grunde nicht einmal als Menschen anerkannt, so dass ihre Einbeziehung in die Bevölkerungsstatistik sofort verdächtig ist. Selbst weiße eingewanderte argentinische Frauen, ob sie nun zu Hause, in der Landwirtschaft oder in der Fabrik arbeiteten (ja, sogar weiße Landbesitzerinnen), erhielten erst in den 1950er Jahren das Wahlrecht. Außerdem waren viele argentinische Landarbeiter zu dieser Zeit Migranten, die mit dem Schiff aus dem spanischen Galizien und auf dem Landweg mit dem Zug aus den Nachbarländern kamen, so dass die Volkszählung die Zahl der Arbeitskräfte nicht genau wiedergab. Sie wurde unterschätzt.
Wenn man das Argentinien in den Jahren um 1900 mit Irland im 21. Jahrhundert vergleicht, ergeben sich weitere Probleme. Verfolgen wir die Analogie noch ein wenig weiter, um zu sehen, warum. Dabei nehme ich die Relevanz sowohl des argentinischen BIP (rückwirkend rekonstruiert) als auch die der Bevölkerungszahlen im Jahr 1900 an. Der Vergleich von historischem BIP und der damaligen Bevölkerungszahl Argentiniens mit den entsprechenden Daten des heutigen Irlands sind aber in vielerlei Hinsicht abwegig.
Um zu sehen, warum das so ist, muss man einen kurzen Blick auf das irische BIP werfen. Die aktuellen irischen Bevölkerungsstatistiken sind realitätsnah, so dass sie verwendet werden können. Aber das irische BIP ist stark aufgebläht, und die Volkswirtschaften Argentiniens und Irlands unterscheiden sich erheblich.
Milei vergleicht Äpfel mit Birnen
Gehen wir davon aus, dass das Modell stichhaltige Ergebnisse liefern kann. Nehmen wir an, dass das rückwirkend berechnete BIP durch eine fragwürdige, 100 Jahre alte Bevölkerungsstatistik geteilt wurde, und akzeptieren wir, dass diese Zahlen immer noch eine gewisse Vorstellung von der Wirtschaftskraft vermitteln, was sie in einem sehr begrenzten wirtschaftlichen Sinne auch tun. Man muss sich jedoch fragen, ob die beiden Volkswirtschaften wirklich vergleichbar sind: Argentinien und Irland stellen unterschiedliche Produkte und Dienstleistungen her, sie nutzen unterschiedliche Technologien, sie haben unterschiedliche Märkte und sie haben auch unterschiedliche Steuersysteme und Handelsabkommen.
Konkret: Irland ist Mitglied der Europäischen Union und Argentinien Mitglied des Mercosur. Die eine Freihandelszone funktioniert, die andere nicht wirklich. Ein gültiger wirtschaftlicher Vergleich ist einer, der Gleiches mit Gleichem vergleicht, oder einer, bei dem zumindest die Unterschiede berücksichtigt werden. Milei tut beides nicht.
Argentinien war in seiner Blütezeit eine weitgehend ländliche Wirtschaft. Seine globale wirtschaftliche Rolle bestand im Export von Nahrungsmitteln (insbesondere Getreide und Fleisch) vor allem nach Europa, insbesondere während des Ersten Weltkriegs. Auch Irland exportiert Lebensmittel, aber die Landwirtschaft spielt gemessen am BIP eine winzige Rolle in der irischen Wirtschaftstätigkeit im Jahr 2024. Vor allem aber ist das irische BIP nicht real, sondern außerordentlich aufgebläht. Die irische Außenhandelsbilanz (insbesondere die Exporte) ist so fiktiv, dass sie oft als „Leprechaunomics“ (übersetzt etwa: Koboldwirtschaft) bezeichnet wird. Wenn man eine riesige Zahl (ein aufgeblasenes BIP) durch eine kleine Bevölkerung (etwa fünf Millionen in Irland) teilt, erhält man ein riesiges BIP im Verhältnis zur Bevölkerung, aber dieses BIP/ Bervölkerung-Verhältnis bedeutet nichts, da es per Definitionem auf einem verzerrten Modell beruht.
„Leprechaunomics“ ist ein abfälliger Ausdruck, der hauptsächlich in den USA verwendet wird. Er beschreibt die Realität des irischen BSP im Vergleich zu den BIP-Statistiken. Kobolde gibt es nicht, und viele der irischen Exporte auch nicht, aber sie werden im irischen BIP gezählt. Die irischen Exportstatistiken werden durch wirtschaftliche Aktivitäten verzerrt, die in Wirklichkeit in anderen Ländern stattfinden (hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, in anderen Ländern der EU). Diese Wirtschaftstätigkeit wird von multinationalen Unternehmen aus steuerlichen Gründen nach Irland verlagert, ein Verfahren, das „transfer pricing“ genannt wird.
Vielleicht könnte eine kurze Erklärung Klarheit schaffen?
„Transfer pricing“ ermöglicht es multinationalen Unternehmen, reale Wirtschaftstätigkeiten zwischen ihren nationalen Tochtergesellschaften zu verschieben, um Steuern zu vermeiden. Dies beinhaltet Preisverzerrungen sowie Neueinstufung von Wirtschaftstätigkeiten, um Steuern zu vermeiden, und die Verschiebung von Transaktionen aus den Büchern einer lokalen multinationalen Niederlassung in die Bücher einer anderen (zum Beispiel in Irland). Multinationale Unternehmen tun dies, um die Vorteile von Steuerschlupflöchern („Mismatches“) zwischen den Ländern zu nutzen. Der Höchststeuersatz für Unternehmensgewinne in Irland beträgt 12,5% (weniger als die Hälfte des argentinischen Steuersatzes), aber multinationale Unternehmen zahlen in der Regel weniger als 1%, so dass sie viele Gewinne per „transfer pricing“ (bei einigen großen Unternehmen Hunderte von Millionen oder Milliarden Euro pro Jahr) nach Irland verlagern. Multinationale US-Konzerne mit einem großen Kundenstamm in der EU transferieren ihre Gewinne nach Irland, um sie dort zu versteuern, und verschieben das Geld dann in Offshore-Steuerparadiese in der Karibik wie die British Virgin Islands (BVI).
Dies hat zur Folge, dass multinationale Unternehmen, die in der kleinen irischen Wirtschaft nur sehr wenige reale Transaktionen durchführen, den Anschein erwecken, dass sie in Irland Geschäfte in Milliardenhöhe tätigen (die in Wirklichkeit anderswo stattfinden). Endergebnis: Das irische BIP wird aufgebläht. Milei kann das in Argentinien nicht tun, sodass der Vergleich keinen Sinn ergibt.
Gehen wir noch weiter. Das meiste, was Irland exportiert, stammt aus drei Sektoren: Finanzdienstleistungen, Pharmazeutika sowie Software und Computerdienstleistungen. Zu letzteren gehören Google, Microsoft, Meta, Twitter/X, LinkdIn und Apple (alle mit EU-Basis in Irland). Milei hat viele dieser Unternehmen kürzlich in den USA besucht. Diese multinationalen Konzerne realisieren über Irland riesige virtuelle “Exporte”, die aber in Wirklichkeit im Rest der Welt stattfinden und das BIP verzerren.
Ein Beispiel dafür sind die deutschen Werbeverkäufe von Google. Diese werden von Deutschland nach Irland verlagert und fälschlicherweise als Einnahmen aus “geistigem Eigentum” kategorisiert, um Steuerschlupflöcher zu nutzen. Durch diese Verlagerung der deutschen Werbegewinne von Google wird das irische BIP aufgebläht: “Koboldwirtschaft”, „Leprechaunomics“!
Milei kann diese Logik nicht auf Argentiniens Exporte von Getreide, Fleisch, Lithium oder Gold anwenden. Seine Visionen können nicht mit den Erlösen aus „transfer pricing“ von Google in Irland konkurrieren.
Nicht zuletzt hat die Wahl Irlands als Exportstandort durch das globale multinationale Kapital viel mit anderen Faktoren zu tun, die nicht direkt mit den Steuersätzen zusammenhängen. Zum Beispiel ist Irland ein Land mit hochqualifizierten englischsprachigen Arbeitskräften im reichsten globalen Block von Nationen der Welt, der EU, mit einigen der bestausgebildeten Menschen auf dem Planeten, deren Online-Aktivitäten wesentliche Inputs für die KI liefern. Argentinien hat da wenig zu bieten. Und die Europäische Union ist ebenfalls von Bedeutung – Argentinien liegt nicht in Europa.
Daher ist nur sehr wenig vom irischen BIP mit dem argentinischen BIP vergleichbar, weder heute noch vor hundert Jahren. Und selbst wenn ein Teil davon mit dem argentinischen vergleichbar wäre, so ist es aufgrund der fehlenden Investitionen in Forschung und Bildung noch unwahrscheinlicher, dass dies in Zukunft der Fall sein wird.
Ein Großteil des irischen Erfolges ist auf die Einbindung in Handelsblöcke zurückzuführen, die wie die Europäische Union funktionieren. Milei ist in seiner widerborstigen Art konsequent gegen die Entwicklung von lateinamerikanischen Handelsblöcken wie UNASUR, Mercosur und BRICS+. Wenn Milei Wirtschaftsblöcke befürworten würde, könnte Argentinien theoretisch davon profitieren, so wie es Irland getan hat, aber Milei hat stattdessen sein Veto gegen eine Mitwirkung von Argentinien in regionalen Blöcke wie die BRICS+ eingelegt. Er will, dass Argentinien einen Alleingang mit den USA und Israel unternimmt – das ist absurd!
Milei versucht vielleicht, die argentinische Landeswährung an den US-Dollar anzupassen (was ohnehin eine schlechte Idee ist), aber selbst das wäre weit davon entfernt, die argentinische Sprache auf Englisch umzustellen, einen stabilen südamerikanischen Euro zu entwickeln oder in hochwertige Bildung und Forschung auf dem Niveau von Deutschland, Spanien, Irland oder den USA zu investieren. Mileis Wahnvorstellungen sind tiefgreifend.
Kurz zusammengefasst: Der Vergleich zwischen Argentinien und Irland ist nicht zutreffend. Irland ist ein schlechtes Modell. Vielleicht sollte man es mit Brasilien als Modell versuchen: Das brasilianische BIP wächst und bricht nicht um 5 Prozent ein wie das von Mileis Argentinien. Um eine deftige argentinische Redewendung zu verwenden: Mileis wirtschaftliche Vision von Argentinien als modernes, zweites Irland ist eine “nube de pedos“[1].
[1] „Chimäre“ wäre eine höfliche Übersetzung, etwas näher am konkreten Wortsinn liegt vielleicht „intellektueller Furz“.
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